Großfeldschach ohne Figuren
Vor Kurzem habe ich wieder ein verwaistes Großfeldschach entdeckt – diesmal im Zentrum von Dessau. Zuvor in Köthen (Anhalt), davor in Eisenhüttenstadt: sorgfältig angelegte Felder, doch nirgends Figuren, nirgends ein Spiel.

Anders meine Beobachtungen im hessischen Kurort Bad Sooden-Allendorf, in den Metropolen Hamburg und München: Neben dem Schachfeld stand jeweils eine Kiste mit Figuren – oft unverschlossen. Manchmal saßen tatsächlich Menschen beisammen und spielten. Warum klappt es dort – und hier nicht?
Die naheliegende Antwort, die ich in einem der Orte hörte: Vandalismus. Die Menschen – im Osten™ – wüssten solche Angebote nicht zu schätzen. Ich bin skeptisch. Solche Erklärungen sind bequem, aber sie erklären wenig. Und sie übersehen, dass wir genau solche Orte der Begegnung bräuchten.
Zwei Tage später, beim Spaziergang durch Dresden, fiel mir eine alternative Lesart ein: Auf einem Spielplatz entdeckte ich eine Kiste mit gemeinsam genutztem Sandspielzeug. Am nächsten Tag sah ich auf einem anderen Spielplatz dasselbe Prinzip. Offenbar kann gemeinschaftlich genutztes Material im öffentlichen Raum funktionieren – in Großstädten ebenso wie auf dem Land (etwa in Borstel bei Stendal).
Meine Arbeitsthese: Nicht „die Menschen“ sind das Problem, sondern die Rahmenbedingungen. In vielen Klein- und Mittelstädten ist der erlebte Infrastrukturverlust der letzten Jahrzehnte besonders spürbar: weniger Personal für Pflege und Aufsicht, weniger Vereine und zivilgesellschaftliche Träger*innen, weniger informelle „Kümmerer*innen“, geringere Frequenz im öffentlichen Raum. Wo Aktivierung, Patenschaft und soziale Kontrolle fehlen, bleiben Kisten leer – oder verschwinden.
Wenn man all das zusammennimmt, wird aus der moralischen Frage („Warum zerstören Menschen so etwas?“) eine Gestaltungsfrage: Wie schaffen wir Bedingungen, in denen Verantwortungsübernahme naheliegt? Statt mit dem Verweis auf Vandalismus zu enden, sollten wir die Instandhaltung sozial organisieren: Patenschaften vergeben, Schaukasten mit Figuren anbringen, regelmäßige „Offene Schachstunden“ mit Verein oder Quartiersmanagement ansetzen, die Kiste klar kennzeichnen – und die Anlage dorthin verlegen, wo sie gesehen und genutzt wird.
Vielleicht ist das Großfeldschach dann nicht länger Symbol eines erschöpften öffentlichen Raums, sondern wieder ein Ort, an dem Menschen einander begegnen – Zug um Zug.