Leben in der Großstadt
Seit ein paar Wochen spüre ich wieder die Anonymität der Großstadt. Zwischen zwei Zielen begegne ich niemandem, den ich kenne. Die Gesichter um mich herum verschwimmen zu einer Menge, über die ich nichts weiß. Es ist eine eigenartige Mischung aus Unaufgeregtheit und Beruhigung – als wäre ich ein Beobachter, nicht wirklich Teil davon. Und doch nagt eine Frage an mir: Welche Realität nehme ich hier eigentlich wahr? Ist es eine, die mir das Gefühl von Distanz und Neutralität gibt, oder ist es eine naive Blase, die mich von dem abschirmt, was in und mit unserer Gesellschaft geschieht?
In der Kleinstadt, in der wir die letzten drei Jahre gelebt haben, war das anders. Dort blieb man nicht unbemerkt. Ich mochte es, auf den 120 Metern zwischen unserem Haus und dem Marktplatz bis zu fünf bekannte Gesichter zu treffen – ein kurzer Gruß, ein paar gewechselte Worte, ein Gefühl von Vertrautheit. Doch nicht jede Begegnung war willkommen. Da war der Immobilienmakler mit der netten Familie, der ohne Zögern erzählte, dass er Homosexualität abstoßend finde und sich wünsche eine Partei wählen zu können, die seit 1945 verboten ist. Wir grüßten uns trotzdem. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil ich noch immer glaube, dass man sich solchen Kontakten nicht entziehen darf. Man muss ihnen freundlich, aber bestimmt entgegentreten. Niemand lässt sich ändern, aber man darf auch niemanden in dem Irrglauben lassen, unwidersprochen im Recht zu sein.
Oder der Koch im Imbiss, wo sich die halbe Nachbarschaft traf. Seine Geschichten waren ein wilder Mix aus Wirklichkeit und Fantasie, längst nicht mehr klar zu trennen, doch sein Essen war köstlich – und es brachte die Menschen zusammen. Seine privaten Fehden, die er mit nahezu allen austrug, isolierten ihn zunehmend in der Stadtgesellschaft. Irgendwann wagte kaum noch jemand von uns Stammgästen, ihm zu widersprechen, egal wie abstrus seine Worte klangen. Nicht aus Angst, sondern aus einer Art stiller Übereinkunft, dass er einer von uns war – ein Mensch, den man nicht ausgrenzen wollte. Vermutlich werde ich in der Großstadt nicht einmal mit einem Koch ins Gespräch kommen. Und wenn doch, wenn mich etwas stört, werde ich einfach nicht wieder sein Lokal betreten. Aber solche Imbisse wie in der Kleinstadt gibt es hier ohnehin nicht mehr.
Die Anonymität der Großstadt bringt eine gewisse Erleichterung. Ich sehe weniger rote Punkte – doch nur, weil ich nicht hinsehen muss. Aber verschwunden sind sie nicht. In der Kleinstadt konnte ich sie nicht ignorieren. Sie zwangen mich, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, ob ich wollte oder nicht. Und das kostete Kraft. Doch während sich Veränderung in der Großstadt oft anfühlt wie eine abstrakte Idee, wird sie in der Kleinstadt zu einer alltäglichen Auseinandersetzung – mühsam, aber unvermeidlich. Vielleicht ist es genau diese alltägliche Auseinandersetzung, die mich in der Kleinstadt erschöpft hat – und doch frage ich mich, ob mich die Ruhe der Großstadt nicht auf eine andere Weise abstumpft.