2022-06-20

Zurück am Schachbrett

Die weißen Schachsteine (Foto: Alexei Maridashvili)Die weißen Schachsteine (Foto: Alexei Maridashvili)

Am Freitagabend spielte ich meine erste professionelle Schachpartie seit 14 Jahren. Ich habe sie zwar verloren, aber dafür sehr genossen. Denn trotz der Niederlage habe ich wieder gefühlt, was ich am Schachspiel so lieb(t)e: In einem Wettkampf, der von freien Entscheidungen zweier Individuen geprägt ist, zu bestehen. Und auch wenn das nicht immer klappt, ist es ein schönes Gefühl, eine verlorene Partie zu analysieren und seine Fehler zu verstehen. Ich hatte nach der Partie ein Hochgefühl, das das ganze Wochenende anhielt.

Seit meiner Jugend habe ich professionell Schach im Verein gespielt. Das bedeutete drei Mal die Woche Training, ab und zu Turniere an den Wochenenden und regelmäßig Punktspiele an Sonntagen. Auch nach meinem Umzug zum Studium nach München blieb ich dem Schach treu und meldete mich bei einem Schachverein an. Erst mit meinem ersten Auslandssemester in Venedig und den sich anschließenden Praktika in Magdeburg, Brüssel und Berlin, fand ich keine Zeit und Lust mehr für Vereinstraining und Spielbetrieb.

Mit unserem Umzug von Berlin nach Stendal, suchte ich mir wieder einen Schachverein. Den Gedanken hatte ich schon während meiner Elternzeit mit unserem ersten Kind, aber dann erst einmal andere Prioritäten. Bevor ich mich der Suche nach einem Verein widmen konnte, war auch schon unser zweites Kind da und wir inzwischen nach Stendal gezogen. Hier fand ich einen Schachverein, der nur 80 Meter von unserem Haus entfernt trainierte, und somit auch gleich den wichtigen Anschluss an andere Menschen in einer neuen Stadt.

Nach ein paar Wochen Training und etwas Online-Schach, dem ich übrigens nicht viel abgewinnen kann, außer wieder Routine zu bekommen, spielte ich am Freitag meine erste Schachpartie seit 2008. Mein Gegenüber kam vom SV 90 Havelberg und war laut seiner DWZ (das Akronym steht für Deutsche Wertungszahl, mit der die Spielstärke einzelner Spieler angegeben und vergleichbar wird) spielstärker als ich zu meiner besten Zeit. Trotzdem begann ich gut und hatte nach der Eröffnung eine ausgeglichene Stellung.

Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass mein Gegenüber nominell stärker war als ich, denn die ungewöhnliche Eröffnung (1. Sf3 c6 2. g3 d5 3. Lg2 Sf6 4. d3 …) und seine sehr passive Spielweise, machten einen anderen Eindruck auf mich. Ich wurde deshalb mutiger und aggressiver in meiner Spielweise (es folgte 4. … Lg4 statt Lf5). Rückblickend betrachtet war das nicht falsch, aber auch nicht nötig. Die sichere Spielweise wäre gewesen, noch ein paar mehr Figuren zu entwickeln, damit sie ebenfalls in das Geschehen eingreifen können.

Mich hatte es aber irgendwie gepackt und ich wollte schon in diesem frühen Stadium der Partie einen Sieg einholen. Ein paar Züge ging das auch gut (5. Sbd2 Dc7 6. O-O e5 7. e4 d4 8. c3 c5) und mein Gegenüber schien auch keine bestimmte Strategie zu verfolgen (9. Da4+ Ld7 10. Db3 Le6 11. Da4+ …), was mich in dem Vorhaben bestärkte, noch mehr anzugreifen. Doch die Hybris führte, wie es in so einer Situation kommen muss, zu ersten Ungenauigkeiten (11. … Dc6 12. Dc2 Ld6) und damit einer schlechteren Stellung.

Besonders fatal war aber, dass ich mich inzwischen stärker als meinen Gegenüber einschätzte und von einer für mich besseren Stellung ausging. So bemerkte ich weder seine Ungenauigkeiten (13. Te1 …) noch meine eigenen kleinen Fehler (13. … b5) und übersah dann nach einem mehrzügigen Abtausch von Spielmaterial ein Zwischenschach (14. cxd4 cxd4 15. Sxd4 exd4 16. Dxc6 Sxc6 17. e5 Lxe5 18. Lxc6+ …), das mich einen ganzen Turm kosten sollte (18. … Sd7 19. Lxa8 …). Damit war die Partie an sich schon verloren.

Das fühlte sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Mein Hochgefühl war wie verflogen und ich dachte, dass ich die Partie aufgeben sollte und früher nach Hause fahre. Ich blieb aber sitzen und entschloss mich weiterzuspielen. Mein Gegenüber sollte die Möglichkeit haben, mehr als nur einen Fehler ausgenutzt zu haben und sich einen Sieg selber erspielen. Zugegeben, ein bisschen Hoffnung hatte ich, dass er vielleicht doch nicht so stark ist und womöglich auch einen Fehler machte. Am Ende wurden es sogar zwei.

Wir spielten von der Stellung an noch vierzig weitere Züge, in denen er eine Leichtfigur und einen Bauer verlor, was mich zumindest hoffen ließ, vielleicht noch ein Remis zu erzielen. Zum Schluß der Partie, von seinem zweiten Fehler sichtbar geschockt und in der Folge wieder wesentlich fokussierter, um die immer noch gewonnene Partie nicht doch noch zu verlieren, musste ich mich seiner Bauernstruktur auf dem Königsflügel geschlagen geben. Diese war nicht mehr aufzuhalten und für mich auch keine weitere Falle zu stellen.

Nach seinem 59. Zug legte ich meinen König nieder, hielt die Uhr an und reichte meinem Gegenüber als Zeichen meiner Aufgabe die Hand. Wir beide atmeten auf, die Anspannung der Wettkampfsituation verflog und wir gingen sofort über in den Analysemodus. Gemeinsam besprachen wir die Züge, was wir wann vermuteten, lachten über unsere Fehler und suchten zusammen nach besseren Antworten. Ich fühlte mich trotz der Niederlage gut, da ich nicht gleich aufgegeben und meinem Gegenüber noch respektable Gegenwehr bot.

Ein Sieg zum Auftakt meines vermutlich zweiten Schachlebens wäre auch schön gewesen, keine Frage, aber ich habe mich in dieser Partie bewiesen und viel gelernt, vor allem über meine Schwäche, aus guten Stellungen heraus angreifen zu wollen statt sie vielleicht noch besser zu entwickeln und auch dem Gegenüber mehr Möglichkeiten für Fehler zu geben. Ab dem Herbst werde ich wieder am professionellen Spielbetrieb in der ersten Mannschaft des SV Energie Stendal teilnehmen und mich hoffentlich Partie um Partie verbessern können.


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